Marina-Paunovic-Autorin-Texte-Schreiben-Poetry

17:35 Uhr. Ich sitze in der Bibliothek und blättere in einem Buch, in welchem es darum geht im Hier und Jetzt zu leben. Mit jeder Seite die ich umblättere, wird die Stimme in meinem Kopf lauter. Sie protestiert. Will nicht mehr weiterlesen, hält das alles für Schwachsinn. Und meine Emotionen geben ihr Recht, denn das was ich lese erzeugt ein unangenehmes Gefühl in meiner Brust, gegen das ich mich nicht wehren kann.

Der Verstand ist unser Feind, heißt es. Und wir sind seine Sklaven. Wir müssen uns von ihm befreien. Müssen uns von unserem „Ich“ befreien. Wir denken zu viel nach, analysieren uns den Moment kaputt. Weil wir in unserem Kopf leben, anstatt im Hier und Jetzt. Weil wir uns mit unserem Verstand identifizieren. Und die protestierende Stimme in meinem Kopf ist sowieso nur mein Ego, welches mich von der Wahrheit fern halten möchte.

Ich denke zu viel nach. Hör auf dich mit deinen Gedanken zu identifizieren! Das bist nicht du! Das ist nur dein Verstand, der dich um den Verstand bringen will! Sei gedankenlos.

Gedankenlos.

Dann bist du frei, weil dein Verstand keine Kontrolle mehr über dich hat. Weil du dann Ereignisse nicht interpretieren musst und sie dich nicht mehr belasten. Lass die Gedanken durch dich hindurchströmen und schenke ihnen keine Beachtung. Hör auf ihnen zu glauben. Sie lügen! 

Das geht nicht. Gedanke.Ist dieser Gedanke wahr? Verdammt, ich kann nicht aufhören zu denken. Will ich das überhaupt? Jeder Gedanke den in denke ist für mich in diesem Augenblick wahr. Nur die Erinnerung an einen Gedanken kann ich hinterfragen. Aber ist das nicht einfach auch wieder nur ein neuer Gedanke, den ich in diesem Augenblick glaube? 

Töte dein Ego.

Gib dich selber auf. Weil du nicht bist, wer du zu sein glaubst. Du bist Licht. Du bist eine Seele gefangen in einem menschlichen Körper. Hör auf dich mit diesem Körper zu identifizieren und du bist frei. Nur wer an seinem „Ich“ festhält, der erlebt Angst, Scham und Schmerzen.

Ich habe Angst davor, mein „Ich“ zu verlieren. Ich schäme mich dafür. Es tut mir weh. 

Falsch, falsch, falsch. So darfst du nicht denken! 

Aber stand da nicht irgendwo, dass es richtig und falsch gar nicht gibt? Das ist doch schon wieder nur ein Gedanke, den man glaubt. Ach, das ist doch alles Schwachsin!

Stop.

Verurteile nicht. Nimm es an. Sei urteilsfrei. Gib deine Meinung auf und glaub an die höhere Wahrheit. Dann wirst du nie wieder leiden.

Nie wieder.

Für immer von Schmerzen befreit. Aber ich möchte leiden! Habe ich das gerade wirklich gedacht?Ja, ich möchte leiden, weil ich anders die Schönheit dieser Welt nicht erfahren kann. Nur durch ihren Kontrast. Nur durch das Dunkle, nur durch den Schmerz. 

Aber Schmerz ist doch nur eine Illusion. Eine Entscheidung. Entscheide dich dagegen und du bist frei.

Nein! 

Gedanke. Wertung. Urteil. Ego, Ego, Ego.

Hör nicht auf die Stimme in deinem Kopf, hör auf mich. Ich bin erleuchtet, ich kenne alle deine Antworten. Befreie dich von deiner Negativität, sei positiv. Zerstöre den Minus-Pol, dann bist du für immer ein Plus.

Warte. Das ist doch auch wieder eine Wertung. Ein Urteil. Alles ist neutral. Der Rest ist eine Lüge! Lüge, Lüge, Lüge. Und welcher Lüge soll ich jetzt glauben?

18:45 Uhr. Ich klappe das Buch zu und stelle es zurück ins Regal. Mein Kopf ist voller widersprüchlicher Gedanken. Lebe ich nun mehr im Hier und Jetzt als vorher? 

Eher nicht. Vermutlich habe ich es einfach falsch gemacht. Alles falsch interpretiert. Zu viel gedacht beim Lesen, anstatt mich einfach voll und ganz darauf einzulassen, anstatt einfach zu glauben.

Und in diesem Moment entscheide ich, dass ich nicht gedankenlos sein will. Weil meine Gedanken ein Teil von mir sind, ein Teil meiner Identität. Und ich entscheide, dass ich meine Identität gar nicht aufgeben möchte. Weil ich ein Mensch bin. Mit Fehlern, mit Makeln, mit eigener Wahrnehmung, mit eigener Meinung.

Mit allen möglichen Emotionen.

Und allen möglichen Gedanken. 

 

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Marina  ♥