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Ich verliere die Balance, um sie wieder zu finden. Mein Leben dreht sich um 180 Grad, genauso wie letztes Jahr um diese Zeit. Doch diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Die Umzugskartons, die ich vor zwölf Monaten gepackt habe, sind nun verstaubt. Ihr Inhalt fast vergessen. Nichts davon habe ich im letzten Jahr gebraucht. Ich wollte frei sein, ganz ohne Gepäck. Leicht. Doch nun kann ich es nicht erwarten, die Kisten wieder auszupacken.

Wie schnell sich Dinge ändern. Wie flüchtig unsere Einstellung sein kann. Ein Jahr lang habe ich ohne Wohnung gelebt, bin herumgereist und habe in über dreißig verschiedenen Unterkünften gewohnt. Ich habe es geliebt, diese Freiheit. Ungebunden und ohne Verpflichtungen. Und nun ist es aber genau das, was ich mir wieder wünsche.

Weil ich es vermisse.

Ich vermisse die Beständigkeit. Letztes Jahr war alles kurzweilig und vergänglich. Flüchtige Begegnungen, begrenzte Aufenthalte, kurzweiliges Ankommen. Die Erinnerungen aber, bleiben für immer. Denn genau dafür war das letzte Jahr da. Erinnerungen schaffen, Dinge ausprobieren und mich neu kennenlernen. Das habe ich getan und ich bin unendlich froh darüber.

Als ich meine Reise letztes Jahr gestartet habe, war das wie eine Flucht. Eine Flucht vor meinem alten Leben, vor mir selbst. Da draußen muss es doch noch mehr geben, als das. Ich wollte ausbrechen, war süchtig nach Veränderung. Doch in den letzten Monaten habe ich gelernt, dass es ganz egal ist, wo auf der Erde man sich befindet. Man nimmt sich selber immer mit, die Probleme bleiben dieselben, nur sieht man sie plötzlich anders.

„What is it that makes life worth living?“

Es war Februar 2018. Ich war erst seit etwas über einem Monat in London und weg von Zuhause, als eine neue Bekanntschaft mir diese Frage stellte. „Other people“, antwortete ich, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Ich war erstaunt über meine Antwort, schließlich war ich gerade alleine auf Reisen und hatte vor, im darauf folgendem Jahr in eine neue Stadt zu ziehen.

Weit weg von den Menschen, die ich liebe.

Eigentlich war es mir damals schon klar. Ich wollte kein Einzelgänger sein. Ich war schon immer eher anhänglich, brauchte Menschen um mich herum, die ich kenne und liebe. Aber davon wollte ich zu diesem Zeitpunkt nichts wissen. Was für mich zählte war Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstständigkeit. Ich wollte dieser Mensch sein.

Und den Teil in mir, der etwas anderes wollte, stieß ich einfach weg.

Und jetzt sitze ich hier, vor meinen verstaubten Umzugskartons und erinnere mich an den Menschen, der ich vor meiner Reise war.

Bin ich jemand anderes geworden?

Ich bin nicht mehr dieselbe. Ich kenne mich jetzt besser, auch wenn es immer noch so unendlich viel in mir zu entdecken gibt. Und doch weiß ich jetzt, dass ich mir wieder ein Zuhause wünsche. Und zwar hier in meiner Heimatstadt, wo die Menschen leben, die ich liebe.

Langsam streife ich mit meiner Hand über einen der verstaubten Kartons. Dann öffne ich ihn vorsichtig, so als würden darin kostbare Schätze auf mich warten. Unter Büchern und Ordnern finde ich eingerahmte Fotos. Fotos, die ich von Freunden geschenkt bekommen habe. Von Freunden, die auch mein altes Ich kennen und lieben.

Und mir wird klar, dass ich schon immer alles hatte, was ich brauche. Dass ich niemals jemand anderes zu sein brauchte. 

Verstaubte Umzugskartons.

Ihr Inhalt erzählt mir von dem Menschen, der ich einmal war. Der ich immer noch bin. Der ich immer sein werde. Und trotzdem niemals wieder genauso wie vorher. Weil wir formbar sind. Nicht fest. Weil wir uns verändern. Jeden Tag.

Denn auch wenn ich nicht mehr dieselbe bin, bin ich trotzdem noch ich.

Was das bedeutet? Ich weiß es nicht.

Aber ich habe mein ganzes Leben lang Zeit, es herauszufinden. 

 

 

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Marina  ♥